Die verlorenen Flügel
Produktionsnotizen zum »Teich der tausend Tränen«
Als ich im Herbst 2019 mit Zeehyun Soh die Virtual-Reality-Messe in Amsterdam besuchte, wollten wir uns nach unseren letzten gemeinsamen Filmproduktionen einen Eindruck von neuen Medienformaten und digitalen Technologien verschaffen, um vor diesem Hintergrund über unsere nächsten Produktionen zu sprechen. Wir lernten auf der Messe auch einige für die Umsetzung unserer Ideen relevante Anwendungsmöglichkeiten von virtueller Realität kennen, waren jedoch vor allem von der Bandbreite künftiger Nutzungsmöglichkeiten überrascht. Militär, Medizin, Logistik, Arbeitsmarkt, Kommunikation — wir wollten lediglich neue künstlerische Ausdrucksmittel kennenlernen, doch uns wurde gezeigt, dass fast alle Lebensbereiche von einem gigantischen technologischen Wandel betroffen sein würden. Der Gedanke, was mit virtueller Realität im Zusammenspiel mit künstlicher Intelligenz in naher Zukunft möglich sein musste, war atemberaubend. Es brauchte nur wenig Fantasie, um zu erkennen, dass unsere globale Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert sein würde.
Auf der Rückfahrt nach Berlin fiel uns auf, dass überhaupt keine Insekten auf unsere Windschutzscheibe knallten. Der Himmel war wolkenlos und die Bäume standen still. Die Autobahn war eben und es regte sich kein Wind. Wir standen noch unter dem direkten Eindruck der virtuellen Welten aus Amsterdam und so wurde unser Gefühl noch verstärkt, durch eine gespenstisch sterile Szenerie zu fahren. Der Unterschied zwischen Autofahren und einer Simulation des Autofahrens mit VR-Brille war kaum zu benennen. Wir sprachen über das Insektensterben und die Hilflosigkeit und Trauer, die wir angesichts der Umweltkatastrophe empfanden. Während sich die technischen Möglichkeiten zu überschlagen scheinen, weicht das Leben aus dem Planeten. Die Wespe mit einem Flügel, das zentrale Bild des Teich der tausend Tränen, entstand in diesem Gespräch.
In dieser Figur verdichtet sich unsere Hilflosigkeit und unsere Trauer. Wir fühlen uns sozusagen so hilflos, wie eine Wespe, die einen Flügel verloren hat. Der Gedanke an ein hilfloses Insekt berührte in irrationaler Weise unsere Emotionen stärker als der Gedanke an die Erderwärmung, auch wenn das einzelne, verwundete Tier im Großen und Ganzen kaum eine Bedeutung zu haben scheint.
Als einige Monate später mit Corona die neuen Abstandsregeln eingeführt wurden, fühlte sich die Möglichkeit, insbesondere dank Computeranimation, die ein zentraler Baustein der virtuellen Realität ist, ohne ein großes Team arbeiten zu können, sehr befreiend an. Die Entscheidung über unsere nächste Produktion war damit getroffen. Wir würden uns vor dem Hintergrund des Erzählens im virtuellen Raum der verwundeten Wespe nähern.
Bevor ich im Folgenden unter »Die Konstellation« unsere Gedanken zur Darstellungsform im Großen umreiße, um im Anschluss einige Überlegungen zu den Darstellungsebenen, also den Bildern, den Texten und der Musik nachzuzeichnen, will ich zunächst unser zweiköpfiges Kernteam vorstellen.
Das Team
Als ich für meine ersten Filmproduktionen mit professionellem Anspruch auf der Suche nach jemandem war, der meine Geschichten in Bilder übersetzen könnte, war ich sehr glücklich, mit Zeehyun Soh in Kontakt zu kommen, denn ich bewunderte ihre Skulpturen aus Holz und Stein und war von ihrer Malerei und ihren Zeichnungen begeistert. Als sie schließlich während unseres ersten Gesprächs, nur mit einem Bleistift ausgerüstet, Figuren, Szenen, Gedanken und Gefühle ohne Worte zu Papier brachte, war ich überwältigt. Es war ein magischer Moment in meinem Leben, denn sie verstand meine Intentionen hinter den Worten und ich hatte das Gefühl, meine Ideen werden Realität.
Der Teich der tausend Tränen entstand ganz aus unserem fortgesetzten Gespräch, sodass sich im Unterschied zu den vorangegangenen Produktionen hier nicht mehr sagen lässt, welche Impulse und Ideen ursprünglich von Zeehyun und welche von mir kamen, auch wenn die Arbeit an den finalen Medien weiterhin konsequent aufgeteilt blieb. Verantwortlich für die Gestaltung der Figuren, Szenerien, Objekte und die finalen Bilder ist sie, verantwortlich für die Dramaturgie, die Texte und die Musik bin ich.
Die Konstellation
Jedes Kunstwerk hat einen primären Ausstellungsort oder eine Bühne, für die es ursprünglich gedacht ist, auch wenn es zu einem späteren Zeitpunkt auch an anderen Orten gezeigt werden kann. Die Bühne und der Inhalt des Werks passen im Idealfall gut zusammen. Ein Theaterstück ist von der Aufführung in Echtzeit mit echten Schauspielern auf einer Theaterbühne hergedacht, auch wenn man es verfilmen kann. Ein Kinofilm ist von der großen Leinwand hergedacht, auch wenn man ihn auch auf dem Smartphone anschauen kann. In der zeitgenössischen Musik wird häufig von der Konzertsituation ausgegangen, in der zeitgenössischen Medienkunst vom Galeriebesuch.
Als ich mit dem Filmemachen begann, war es mein Wunsch, das Medium als Rahmen für vielschichtiges Erzählen mit Bildern, Worten und Klängen so zu nutzen, dass alle diese Schichten gleichermaßen zur Geltung kommen. Das Ergebnis sollte über die Formen hinausweisen und durch die entstandenen Zwischenräume und Beziehungen der Schichten zueinander Zugänge zu einer inneren Wahrnehmung jenseits von Bildern, Worten und Klängen ermöglichen. Ich wollte also nicht die Verfilmung von Stoff mit Begleitmusik, sondern mich der Idee eines zeitgenössischen Gesamtkunstwerks nähern. Man könnte auch sagen, ich wollte Musik mit allen Mitteln, das heißt Musik mit allen Sinnen.
Für die verwundete Wespe sollte der gleiche Anspruch gelten, doch etwas in mir sträubte sich, ihr schlicht einen linear erzählenden Musikfilm zu widmen. Ihre »natürliche Umgebung« ist der virtuelle Raum, eben weil sie als Figur selbst ihrer computeranimierten Natur nach ganz und gar virtuell ist. Der virtuelle Raum wird durch das Internet »verkörpert«, das heißt, die Darstellungsform der verwundeten Wespe sollte konsequenterweise auch vom Internet hergedacht werden.
Ein Netz besteht aus vielen Knoten und Verbindungen. Ein Netzkunstwerk, das diesen Gedanken auch formal zum Ausdruck bringt, ist eine Werkgruppe aus verschiedenen digitalen Medien, die zueinander in Beziehung stehen. Worte, Bilder und Klänge müssen hier nicht alle in eine Form gebannt werden, sondern dürfen in verschiedenen Formaten mit verschiedenen Schwerpunkten nebeneinanderstehen und sich gegenseitig beleuchten und im geglückten Fall in ihrer Wirkung verstärken. An diese Gedanken anknüpfend kristallisierten sich im Laufe unseres Gesprächs die finalen »Knotenpunkte« des Teich der tausend Tränen heraus: Ein erzählender 3D-animierter Hauptfilm ohne Anfang und Ende mit einer eigenen Klangsprache, ein fiktionales Essay mit losem Bezug zu den Elementen des Hauptfilms und vierzehn virtuelle Klangobjekte, ebenfalls ohne Anfang und Ende, gebannt in kurze Videoschleifen.
Im Gegensatz zu Theater, Galerie, Kino oder Konzertsaal hat das Internet kein spezifisches Publikum und keine typische Zielgruppe. Ein Internetkunstwerk richtet sich somit stärker als andere Kunstformen an alle und keinen, in traditionellen Form- und Gattungsbegriffen wohl am ehesten noch vergleichbar mit einer Skulptur oder einer Kunstinstallation im öffentlichen Raum. Da sich das Wesentliche unserer angestrebten Darstellungsform jedoch mit diesen und anderen uns im Zusammenhang mit Kunstformen geläufigen Begriffen nicht oder nur teilweise zum Ausdruck bringen ließ, suchten wir nach einem neuen und geeigneteren Namen für sie und fanden schließlich den Begriff der Konstellation.
Unter einer Konstellation wird im Allgemeinen eine Gruppierung oder das Zusammentreffen bestimmter Umstände und die sich daraus ergebende Situation verstanden. Etymologisch leitet sich die Konstellation vom lateinischen »stellatus« (mit Sternen besetzt) ab, woraus sich auch die Anwendung des Begriffs auf den Planetenstand und die sich vermeintlich daraus ergebenden Einflüsse auf das Schicksal des Menschen erklärt. Der Begriff bringt in unserem Zusammenhang sowohl die Einheit der Werkgruppe als auch die Beziehungen der einzelnen Medien zueinander zum Ausdruck. In Anlehnung an den Begriff der Installation im öffentlichen Raum bilden die verschiedenen Medien der verwundeten Wespe im Internet eine Konstellation.
Die Bilder
Die letzten Jahrhunderte der Menschheitsentwicklung waren geprägt von dem Wunsch, die Natur möglichst umfassend nutzbar zu machen, das heißt, die Natur zu erforschen, um sie zu unterwerfen und auszuhöhlen. Dies hat einerseits zu großen Erkenntnissen und beeindruckendem technologischem Fortschritt geführt, andererseits hat es die Lebensräume von Menschen, Tieren und Pflanzen geschädigt oder ganz zerstört.
Eine weitere signifikante Begleiterscheinung des technologischen Fortschritts, der oftmals auch eine Zeitersparnis bei der Bewältigung der Herausforderungen des täglichen Lebens verspricht, ist der zunehmende Zeitdruck, unter dem die meisten Menschen in industrialisierten Ländern permanent stehen. Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, lässt sich jedoch auf das zugrundeliegende Prinzip zurückführen, denn der Mensch ist ein Teil der Natur und als solcher ein Teil des zu unterwerfenden und auszuhöhlenden Gegenstands.
Die Quelle des Bildmaterials des Teich der tausend Tränen ist Computeranimation. Diese steht in unseren Augen als Kulturtechnik sinnbildlich für diese Diskrepanzen. Hohle Objekte bestehen nur aus ihrer faszinierenden virtuellen Oberfläche. Nahezu unendliche Möglichkeiten lassen sich mit diesen leeren Hüllen ohne Bewusstsein in einem Schwebezustand unauflösbarer Ambiguität visuell zur Darstellung bringen. Die Figuren sind als solche zu erkennen und insoweit konkret, aber man identifiziert sich nicht mit ihnen, insoweit bleiben sie abstrakt. Sie werden stärker als übergeordnete Prinzipien oder Ideen wahrgenommen, denn als charakteristische Individuen oder individuelle Objekte. Man sieht beispielsweise in der Figur des Kindes nicht ein bestimmtes Kind, sondern die Idee eines Kindes. Mit der Kulisse der Stadt ist nicht eine bestimmte Stadt gemeint, sondern die allgemeine Idee einer Stadt.
Aufgrund dieser Bedingungen wollten wir die Figuren hier auch nicht mit Worten, sondern durch ihre Aktionen und ihre symbolisch aufgeladene Anordnung und Inszenierung im virtuellen Raum sprechen lassen. Die Oberfläche des Teichs wird so zu einer Projektionsfläche für eigene Assoziationen, Erinnerungen und Erfahrungen.
Durch diese Schwerpunktverschiebung weg von der Schauspielerei, hin zu Symbolen und Objekten, weg von den gesprochenen Worten, hin zu Klängen, Licht und Schatten, entsteht eine Atmosphäre, die dem Traum nahe ist. Gedanken werden also entweder in Bilder und Klänge aufgelöst oder innerhalb der Konstellation in die Textebene ausgelagert.
Auf Handlungsebene wird im Hauptfilm vor dem Hintergrund einer modernen, auf Komfort und Sicherheit getrimmten Großstadt die Lebens- und Leidensgeschichte einer Wespe erzählt. Diese verkörpert als »Fabeltier« den seelisch verwundeten, gestressten modernen Menschen, gefangen in endloser Routine und Wiederholung. Die Rahmenhandlung der Lebensgeschichte findet zweimal aus verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen Todesmomenten statt. Nach ermüdenden Überlebenskämpfen wird die Wespe beim einen Mal von einer Krähe verschluckt und ertrinkt schließlich, nachdem sie von ihr wieder ausgeschieden wurde; beim anderen Mal stirbt sie aus Erschöpfung. Es entsteht der Eindruck, es könnte so, aber auch anders gewesen sein.
Genauso wichtig wie die Rahmenhandlung sind jedoch auch die zahlreichen Nebenstränge, die durch eine weinende Skulptur inmitten des Teich der tausend Tränen verbunden werden. Ein kleines Kind schaut auf dem Rücksitz eines Autos Videos und Nachrichten, die es noch nicht verstehen kann. Seine Mutter sitzt angespannt am Steuer. Später sitzt sie gelangweilt in einer Pizzeria und verjagt eine Wespe. Junge Menschen tanzen teilnahmslos zu stumpfen Klängen. Die zahlreichen Bildschirme in der Stadt sind gleichgeschaltet.
Dramaturgisch ist der Hauptfilm als ein Thema mit Variationen angelegt; durch die vielen Bildschirme, auf denen ebenfalls Variationen des »echten Lebens« zu sehen sind, entsteht an manchen Stellen der Eindruck eines Spiegels im Spiegel. Die Unendlichkeit findet also nicht nur äußerlich statt, sondern durchzieht auf diese Weise die gesamte Erzählung.
Die vierzehn kürzeren Videoschleifen sind in sich geschlossene Situationen oder Stationen, sozusagen Zeitreliefs. Sie bestehen auf der Bildebene aus Objekten und Motiven aus dem Hauptfilm. Am Ende dieser Produktionsnotizen ist ihnen noch ein eigener Abschnitt gewidmet.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein treffendes Portrait dazu beitragen kann, den portraitierten Gegenstand zu überwinden oder zurückzulassen. Wenn ich meine Probleme in einem Roman in reflektierter Form wiederfinde, sind sie schon halb gelöst. Der innere Sinn eines traurigen Portraits geht also im geglückten Fall bereits über das Stadium der Trauer hinaus. Außerdem sind einige der hier auf der Bildebene dargestellten Situationen wirklich absurd, wie beispielsweise die ratlose Wespe im Bauch der Krähe, die auf befremdliche Weise an Jona im Bauch des Wals erinnert. Der Untertitel oder das Motto der Konstellation verweist auf diese Ambivalenz: Wenn alle weinen, ist es gut, wenn einer lacht. Wenn alle sich entschuldigen, ist es gut, wenn einer weint.
Die Texte
Die Textebene besteht in einem engen Sinn aus dem fiktionalen Essay Betrachtungen einer Wespe, dem Namen und dem Motto der Konstellation sowie den Titeln der kürzeren Videoschleifen. In einem weiten Sinn gehören auch das Drehbuch des Hauptfilms, die Partituren der Musikstücke und diese Produktionsnotizen dazu. In einem noch weiteren Sinn zählen auch die Unmengen an Code, die nötig waren, um überhaupt zu den sicht- und hörbaren Ergebnissen zu gelangen, zur Textebene. Vor diesem Hintergrund könnte man auch den gesamten virtuellen Raum als ein kollektives literarisches Werk betrachten und den Teich der tausend Tränen als ein Kapitel hiervon. Auch wenn ich meine Gedanken im Folgenden auf die Textebene im engen Sinn beschränke, halte ich die Möglichkeit eines auf diese Weise erweiterten Textverständnisses zumindest für erwähnenswert, denn sie verweist auf ein starkes Charakteristikum des virtuellen Raums: die Aufhebung der Materie in Befehle.
Wie die anderen Elemente der Konstellation, sollen auch die Betrachtungen einer Wespe sowohl für sich selbst stehen als auch im Kontext der benachbarten Medien verstanden werden können. Die Erzählung handelt von einem Mann, der glaubt, sich durch Anstrengung seines Willens in eine Wespe zu verwandeln. Er kann seinem menschlichen Leben keine Freude mehr abgewinnen und verfällt einer fehlgeleiteten Vorstellung von Meditation. Das ist natürlich abstrus, unterscheidet sich aber im Grunde nicht groß von der ganz normalen Weltflucht mithilfe von Drogen oder moderner Unterhaltungselektronik. Man verspielt sein Leben in einer Fantasieblase. Im Text wird die Hauptfigur sozusagen vor ihrer Verwandlung portraitiert, die Videos spielen in der Zeit nach ihrer Verwandlung.
Mit den Titeln der Videos habe ich nicht versucht, die Inhalte der Erzählung oder die Inhalte der Bildebene nochmals auszusprechen, sondern durch assoziative Sprachfragmente weitere Zwischenräume und Pfade zum Teich — oder weg von ihm — zu erschließen. Gleichzeitig stehen die Titel in einer Beziehung zueinander und erscheinen so abermals in einem neuen Licht.
Die Musik
Ich habe schon länger davon geträumt, eine Musik zu schreiben, die im Wesentlichen aus Klangfarben besteht, das heißt, eine Musik, die mit Geräuschen und Tonhöhen so umgeht, dass man beim Hören keine Tonstufen mehr wahrnimmt, sondern einen offenen Klangraum ohne Tonhöhenraster. Aus Angst vor dem Scheitern bin ich aber immer wieder vor der Umsetzung zurückgeschreckt. Durch die Corona-Isolation hatte ich jedoch auf einmal mehr Zeit als sonst und somit keine Entschuldigung mehr, mich nicht endlich dieser Aufgabe zu stellen.
Wenn man die Abstände zwischen den Tonstufen so klein macht, dass für das Ohr gar keine Stufen mehr erkennbar sind, sondern nur noch ein »Heller« oder ein »Dunkler«, und man die auf diese Weise zusätzlich gewonnenen Möglichkeiten nicht nur dazu verwendet, das althergebrachte Stufenraster auszuschmücken, sondern es schafft, sich auch innerlich ganz von der Vorstellung der Stufen zu lösen, komponiert man in einem endlosen Kontinuum. Die Schritte oder Sprünge zwischen den Tonstufen haben sich dann in einen stetigen Übergang namenloser Zustände aufgelöst, selbst wenn auf dem Papier nach wie vor Tonstufen notiert sind. Der Teich der tausend Tränen — auf Bild- und Textebene ebenfalls ein stetiger Übergang seelischer Zustände — war somit ein willkommener Anlass, nicht nur mit dem Erzählen neue Wege zu gehen, sondern auch mit der Musik.
Das offene Kontinuum an Tonhöhen entzieht sich jedem Versuch, es durch Musiktheorie zu greifen. Und genau diese Überforderung des analytischen Verstandes war es, was mir zunächst einmal Angst vor dem Komponieren gemacht hatte. Man muss sich ganz fallen lassen in die Kraft der Assoziation, in die innere Beziehung der Intervallstrukturen jenseits von Analyse und Konstruktion. Man kann sich hier nichts ausdenken, sondern muss sich die Dinge wirklich einfallen lassen.
Da traditionelle Instrumente in der Regel für eine Musik im Halbtonraster gebaut sind, muss man zur Umsetzung entweder ein neues Instrument bauen und spielen lernen, oder mehrere baugleiche Instrumente unterschiedlich einstimmen. Der Vorteil des unterschiedlichen Einstimmens ist, dass ausgebildete Musiker auf ihren Instrumenten so spielen können, wie sie es gelernt haben. Deshalb habe ich mich für diesen Weg entschieden.
Diese komponierte »Klangfarbenmusik« wollte ich in den Videos mit atmosphärischen Geräuschen auf eine Weise mischen, dass die Geräusche ebenfalls als ein Teil der Musik wahrgenommen werden. Indem die Geräusche wiederum auf die Bildebene Bezug nehmen oder sie unmittelbar vertonen, sollte so zudem die komponierte Musik mit der Bildebene verschmelzen.
Das Zeitrelief
Abschließend möchte ich noch ein paar unserer Überlegungen zu der eigentümlichen Form der kurzen Videoschleifen festhalten. Viele der virtuellen Objekte, wie die weinende Skulptur, nach der der Teich der tausend Tränen benannt ist, oder die Variationen der Wespe im Ei, sind im Grunde Bildhauerei. In einer virtuellen Realität könnte man um sie herumgehen und sie berühren.
Da eine solche Erfahrung gegenwärtig noch nicht ohne große technische Hürden über das Internet möglich gemacht werden kann, haben wir eine Auswahl von virtuellen Objekten in kurze Videos gebannt. Diese werden inzwischen als NFTs, das heißt als immaterielle Einzelstücke, auf dem Kunstmarkt gehandelt. Um den Objektcharakter zu wahren, sind die Videos »endlos«, das heißt, sie sind so konzipiert, dass sie sowohl auf der Bild- als auch auf der Klangebene keinen Anfang und kein Ende haben. Bereits bei der Komposition der Musikstücke musste also die Länge der Videoschleifen bildgenau festgelegt und die Dramaturgie so vorausgedacht werden, dass Anfang und Ende nicht nur technisch verschwinden, sondern dass man sich im besten Sinn zeitlich und räumlich in den Objekten verlieren kann.
In unseren Gesprächen entstand hierfür als Brücke zwischen Bildhauerei als Raumkunst und Musik als Zeitkunst die Bezeichnung Zeitrelief. Auch wenn es sich technisch betrachtet um sehr kurze Videos in endloser Wiederholung handelt, findet in der Wahrnehmung paradoxerweise das Gegenteil statt. Die Raum- und Klangobjekte existieren ohne Anfang und Ende, sozusagen ewig, also auch ohne Wiederholung und in letzter Konsequenz ohne lineare Zeit. Auf diese Weise lehnt sich die digitale entmaterialisierte Kunst wieder an die Betrachtung der Natur an. Jeden Morgen geht die Sonne auf.